2020 - Wiesen.Blumen.
Sonderheft der Reihe "Geschichten aus Grünau"
Heft 9 | Juli 2020
Susanne Rosenkranz - Märchen und Gedichte
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0163 / 2783394
Volk der Wassertropfen
In einer Muschel lebte einst die Wasserflohprinzessin „Picebo“ mit ihrem Volk. Vor hunderten von Jahren waren bei einem Sturm die Prinzessin und das Volk der Wassertropfen in die Muschel gespült worden. Picebo’s Krone trugen hunderte von feinsten Wassertropfen, die in den schönsten Farben schillerten. Federleicht sind sie in ständiger Bewegung, um das gläserne Krönchen zu halten. Der kleine Floh mit dem Sattel auf dem Rücken hüpft oft hin und her. Kam einer der Tropfen ins Schwanken, jauchzte die Prinzessin erschrocken. Das Klingen der Tröpfchen hörte sich an wie zarter Nieselregen, der wie ein grauer Schleier über dem Teich liegt. Und sich gleich die Sonne durchsetzt. Die Austernperle Anisha, die tief unten im Schlund der Muschel wohnt, dachte eingebildet an die Fluten der Gezeiten zurück. Als sie einst in der Muschel entstand. Und nun mit ihr hier her gespült wurde. Nur einmal im Monat öffnet die Muschel sanft die Schalen, um Luft zu holen. Es geschieht in der Mitte des Tages. Dieser Moment versetzt das Volk der Wassertropfen in große Unruhe. Die kleinen Perlen trippeln unruhig hin und her. Sie dürfen die Krone der Prinzessin nicht verlieren. Denn ohne die Krone würde die Muschel die Wasserflohprinzessin und ihr Tropfenvölkchen mit einem einzigen Atemzug ausstoßen. Und sie wären alle verloren. Wie die Tänzer im Ballett drehen sich die Tropfen knicksend um die Prinzessin. Und rufen:
„Falle nicht, nein falle nicht,
du entschwindest sonst dem Licht.
Und zerbrichst!“
Anisha übersah die winzigen Tröpfchen überheblich, dachte nur an die eigene Schönheit. Ab und zu spiegelte sich Anisha, die Austernperle, in der gläsernen Krone der Wasserflohprinzessin. Sie kann sich nicht sattsehen, denn übermächtig groß und bunt taucht sie ein in den trügerischen Spiegel. Mit der Zeit wurde die Krone von Picebo, der Wasserflohprinzessin, immer schöner. Das erkannte Anisha zuerst nicht. Zu sehr war sie selbstverliebt. Farbenprächtig funkelte das Krönchen, als würden feinste Sonnenstrahlen sie im Wasser des Teiches berühren. Anisha dachte böse: „Beim nächsten Gewitterguss wird euch die Wasserwanze Kugeldick oder ein Fisch zu fassen kriegen. Und ich bleibe die Schön-ste des Teiches, wie eh und je!“
In all den Jahren lebten die Wassertropfen friedlich mit der Austernperle. Arglos bemerkten sie die Überheblichkeit der Perle nicht. Und ahnten nichts von deren Plänen. Geheimnisvoll schön ruhte sie am Grund der Muschel. Dem Wassergott Pariacaca, der den Gott der starken Regenfälle herbeirufen konnte, entging nichts. Eines Tages sprach Neptun, der Herrscher des Teiches, wieder einmal sein Klagelied über die Austernperle Anisha bei ihm aus. Auch ihm missfiel die spiegelverliebte Auster, die eigentlich nichts tat, als sich ihrer eigenen Schönheit zu erfreuen. Und so vereinbarten die beiden, Anisha auf die Probe zu stellen: Es regnete nun drei Tage lang und viele Gewitter zogen über das Land und wirbelten durch den kleinen Teich. Die Muschel mit dem Volk der Wassertropfen musste aber trotzdem Luft holen. So ist nun mal seit Anbeginn der Zeit die besondere Ordnung der Dinge. Sie hatte auf Grund der starken Regenfälle dabei etwas Wasser in ihre Schalen bekommen und musste niesen. Bei ihrem kräftigen Hatschi geschah es nun, dass die Wassertropfen sich gerade noch an der Krone der Prinzessin halten konnten. Und das Völkchen der Wassertropfen flog wie mit einem Katapult aus der Muschel. Erschöpft schloss die Muschel ihre Schale. Die Perle Anisha schloss genüsslich die Augen und schlummerte ihren Schönheitsschlaf, während der Regen und das Gewitter langsam über dem Teich verschwanden.
Die Wassertropfenperlen mit der wunderschönen Krone waren auf einem Kleeblatt gelandet und besorgt um ihre Wasserflohprinzessin Picebo, die nicht bei ihnen war. „Wir müssen sie finden, denn ohne die Krone ist sie verloren!“ Das Kleeblatt Frohgemut sprach zu ihnen: „Ich kann euch helfen. Ich bin ein Glücksbringer! Schaut, mein viertes Blatt kann zaubern!“ Die Wassertropfen staunten, denn so etwas hatten sie noch nie gesehen. Und „Frohgemut“ sagte den Zauberspruch:
„Perlen, ihr Perlen so sanft, schaut ins Gras,
ob die Prinzessin hier saß!“
Und weiter: „Die Krone lasst hier, ich wickle sie in mein viertes Blatt, so wird ihr nichts geschehen!“ Sogleich bewegten sich weitere tausende von Wassertropfen, die durch die Regenfälle entstanden waren, mit dem Völkchen der Prinzessin gemeinsam in die Blätter hinunter, um nach ihr zu suchen. Unterwegs tuschelten sie: „Die Prinzessin Picebo soll wie ein großer Wassertropfen aussehen, der in vielen Farben leuchtet! Wir müssen uns beeilen, eh es zu spät ist, denn die Unke Rotbauch liebt solche Delikatessen“. Sie beschlossen einen festen Röhrenpilz mitzunehmen, damit wollten sie die Prinzessin auffangen. Und sie vorsichtig wie in einen Schirm hineineinsetzen. Alle Wassertropfen bildeten eine Reihe. „Aufnehmen Leute!“ kommandierte Taufrisch. Durch den Zauberspruch des Kleeblattes waren sie bald auf dem richtigen Weg. „Schaut, da sitzt die Prinzessin!“ riefen die Tropfen im Chor. Picebo hatte sich mit den kleinen Zangen um ein Schneeglöckchen gelegt, war sehr traurig und weinte. Ihre Tränen schillerten in vielen Farben und verwandelten sich sogleich in kleine Eiskristalle. Es wollte dem Volk der Wassertropfen fast das Herz brechen. Schnell fingen sie die Prinzessin Picebo in dem Röhrenpilz auf und trugen sie heim. Beim Kleeblatt angekommen, setzten sie Picebo ihre Krone auf. Und überall sahen sie sich funkeln wie in einen Spiegel. Beim Kleeblatt Frohgemut bauten sie aus anderen Kleeblättern ein Schloss. Später umrankten es feine Wiesenblumen. Wenn die Armee der Glühwürmchen es des Abends mit seinen bunten Lichtsignalen bewacht, sieht das winzige, kaum sichtbare Schloss zauberhaft aus. Und so lebten sie künftig glücklich am Rand des Teiches.
Die Muschel mit der Austernperle Anisha fand an einem sehr trockenen Tag ein Junge am Teich beim Spielen. Sie war fest verschlossen. Als er sie seinem Vater zeigte, beschloss dieser die Muschel für das Aquarium nach Hause mitzunehmen.
Dort liegt sie nun. Unerkannt. Und allein.